Westdeutsche Zeitung: Merkel und die Kakophonie =
Von Anja Clemens-Smicek

Der letzte Tag vor Beginn des Sommerurlaubs ist
ein Tag der Vorfreude. Man fühlt sich euphorisch, die Arbeit geht
leicht von der Hand, und es schwingt fast schon ein wenig Bedauern
mit, die Kollegen längere Zeit nicht zu sehen. Diese Gefühle schien
gestern auch die Bundeskanzlerin verspürt zu haben, als sie gut
gelaunt und optimistisch vor die Presse trat. Dabei könnte Angela
Merkel keinen schlechteren Urlaubsstart erwischen: Die Umfragebilanz
der schwarz-gelben Koalition ist katastrophal, die Loyalität der
Kollegen, pardon des Kabinetts, endet – spätestens wenn es um das
Sparpaket geht – vor der eigenen Ressorttür, und der Union kommt ein
Ministerpräsident nach dem anderen abhanden. Dennoch verspricht
Merkel den Deutschen, dass man sie „nach den Ferien wiedersieht“.
Selbstüberschätzung? Sicher nicht. Auch wenn sich die Opposition
schon auf der Siegerstraße wähnt – gerne wird vergessen, dass
Umfragen Momentaufnahmen sind. Und dass es für die
Vorgängerregierungen nach den Wahlen ebenfalls in der Wählergunst
bergab ging. So rutschte die SPD unter Gerhard Schröder nach
September 1998 innerhalb von zehn Monaten von 40,9 auf 32 Prozent.
Nach der Wiederwahl 2002 büßte die Partei in der Sonntagsfrage
immerhin noch mehr als sieben Prozent ein. Die Große Koalition macht
bei dieser Statistik keine Ausnahme. Dennoch kann sich Merkel keine
lange Urlaubspause leisten, denn viel zu brisant sind die
Entscheidungen, die im Herbst auf der Agenda stehen. Da ist die
Regelung über die Verlängerung der AKW-Laufzeiten, da sind die
Streitthemen Wehrpflicht und Gesundheit. Genügend Sprengstoff also
für jene Kabinettsmitglieder und Länder-Regierungschefs, die
Beschlüsse mit Vorliebe zerreden und den öffentlichkeitswirksamen
Kampf mit dem politischen Partner suchen. Wenn Merkel aber nicht
will, dass die Bürger auch das letzte Vertrauen in die Arbeit der
Koalition verlieren, muss sie diese Kakophonie unterbinden. Statt
nüchterner Analyse ist endlich eine harte Hand gefordert. Die
Kanzlerin wird mit den Worten zitiert, dass ihr beim Unkrautzupfen im
Garten „der eine oder andere kluge Gedanke“ kommt. In unser aller
Interesse ist zu hoffen, dass dort im Urlaub einiges an Arbeit auf
sie wartet.

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